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Update: Beurlaubung als wirtschaftliches Alternativverhalten


In Heft 3/2022 KH-J wurde die Rechtsprechung zur Fallzusammenführung (FZF) nach Maßgabe des fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhaltens außerhalb der Regelungen der Fallpauschalenvereinbarung (FPV) detailliert dargestellt. Nach Veröffentlichung der Urteilsgründe werden vorliegend in Form eines Updates die Voraussetzungen einer notwendigen Beurlaubung erläutert.

In seinerdiesbezüglich jüngsten Entscheidung (Az.: B 1 KR 14/21 R vom 26.04.2022) hat das Bundessozialgericht (BSG) einen Fall entschieden, in dem der Patient einen Tag vor der Tumorkonferenz entlassen und acht Tage später zur laparoskopischen Sigmoideostoma-Anlage, Adhäsiolyse und Implantation eines Ports für eine anschließende Radiochemotherapie erneut stationär aufgenommen worden ist. Eine Fallzusammenführung (FZF) der beiden Behandlungsfälle war nach den Vorgaben der Fallpauschalenvereinbarung (FPV) ausgeschlossen, da die Rückausnahme nach Spalte 13 des Fallpauschalenkatalogs einschlug (§ 2 Abs. 2 S. 2 FPV). Die Krankenkasse forderte gleichwohl die Zusammenlegung, da die Behandlung im Zeitpunkt der Entlassung aus dem ersten Aufenthalt noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Das BSG hat der Revision stattgegeben und die Klage des Krankenhauses (KH) abgewiesen. Nach den Grundsätzen des wirtschaftlichen Alternativverhaltens durfte das KH nur einen einzigen zusammenhängenden Behandlungsfall abrechnen, so der erkennende 1. Senat des BSG.

Diesbezüglich hat der 1. Senat nun klargestellt, unter welchen Umständen – jedenfalls für Behandlungsfälle vor dem 01.01.2019 – ein Patient entweder unmittelbar weiter zu behandeln oder zu beurlauben ist, nämlich wenn „in einem überschaubaren Zeitraum 1.   Klarheit darüber geschaffen werden kann, ob eine Fortsetzung der stationären Behandlung medizinisch geboten ist, und 2.   die Fortsetzung der Behandlung aus medizinischen Gründen auch tatsächlich erfolgen kann“.

Dabei soll ein Zeitraum von zehn Tagen ab der Entscheidung über die Entlassung bis zur Fortsetzung der Behandlung noch als überschaubar gelten. Dieser Zeittraum ist zu überschreiten, wenn die Weiterbehandlung allein aus organisatorischen Gründen des KH nicht innerhalb von zehn Tagen durchgeführt werden kann. Für die diesbezügliche Beurteilung soll der im Zeitpunkt verfügbare Wissens- und Kenntnisstand des behandelnden Arztes für die Entscheidung zur Entlassung ausschlaggebend sein (Rdn. 19 und 20).

Liegen diese Voraussetzungen vor, ist es unerheblich, wenn die Zusammenführung als Rückausnahme (Spalte 13) ausgeschlossen ist. Das Wirtschaftlichkeitsgebot gelte uneingeschränkt, weswegen in jedem Einzelfall eine individuelle Prüfung ungeachtet entgegenstehender Vorgaben der FPV vorzunehmen sei, betont der 1. Senat. Lediglich im Falle der angeordneten FZF entfalle die individuelle Prüfung der Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebots (Rdn. 17). Dasselbe gelte auch, wenn die Vorgaben zur Beurlaubung des jeweiligen Landesvertrags den zuvor dargestellten Grundsätzen widersprechen. Denn die Geltung des Wirtschaftlichkeitsgebots könne auch nicht durch landesvertragliche Vereinbarungen eingeschränkt werden (Rdn. 24).

Zumindest für Behandlungsfälle vor dem 01.01.2019 steht nun zulasten der Krankenhäuser fest, dass eine FZF auch dann vorzunehmen ist, wenn im Zeitpunkt der Entlassung aus dem ersten Aufenthalt noch nicht absehbar ist, ob und wie der Patient weiterbehandelt wird. Dieser Aspekt ist insofern von hoher praktischer Relevanz, als nach dem Abschluss eines Teils der diagnostischen Maßnahmen regelmäßig noch weitere Untersuchungen ausgewertet, ärztliche Konzile wie das Tumorboard durchgeführt oder schlichtweg die notwendige Entscheidungszeit hinsichtlich der Präferenz des Patienten abgewartet werden muss.

Diesbezüglich birgt ein Detail der Entscheidung maßgebliche Bedeutung: Während der 1. Senat zunächst nur fordert, dass innerhalb eines überschaubaren Zeitraums Klarheit hinsichtlich der Fortsetzung der Behandlung bestehen muss (Rdn. 19), wird mit der anschließenden Definition des „überschaubaren Zeitraums“ klar, dass die Notwendigkeit der Weiterbehandlung nicht nur innerhalb der Frist „absehbar“ sein muss, denn dann wäre die Frist auch gewahrt, wenn die Weiterbehandlung innerhalb der Frist absehbar ist, tatsächlich aber erst später wieder aufgenommen worden ist. Dementgegen muss die Weiterbehandlung nach der ausdrücklichen Vorgabe des Senats auch innerhalb der Zehntagesfrist tatsächlich fortgeführt werden: „Der Senat geht davon aus, dass in der Regel ein Zeitraum von zehn Tagen ab der Entscheidung über die Entlassung bis zur Fortsetzung der Behandlung noch als überschaubar anzusehen ist und damit noch das erforderliche Behandlungskontinuum wahrt“ (Rdn. 20). Die regelmäßigen Bestrebungen von KK, Behandlungsfällen, die mehrere Wochen oder gar Monate auseinanderliegen, mit dem Argument der Wirtschaftlichkeit zusammenzuführen, gehen damit jedenfalls ins Leere.

Weitere Spielräume bestehen, sofern eine unmittelbare Weiterbehandlung aus medizinischen Gründen, etwa mit Blick auf die notwendige Rekonvaleszenz vor weiteren invasiven Maßnahmen, ausgeschlossen ist. Ebenso wenig ist eine FZF vorzunehmen, wenn nach der Entlassung aus dem ersten Behandlungsfall ein weiteres, nicht absehbares medizinisches Geschehen hinzutritt; es sich also nicht mehr um denselben Behandlungsfall handelt. Schließlich gilt für alle Fälle ab dem 01.01.2019 der seitdem in Kraft getretene § 8 Abs. 5 S. 3 KHEntgG, wonach eine Fallzusammenführung außerhalb der Vorschriften der FPV allein aus Wirtschaftlichkeitsgründen gesetzlich ausgeschlossen ist. Zur Frage, ob FZF nach Maßgabe des wirtschaftlichen Alternativverhaltens entgegen der eindeutigen gesetzlichen Vorgabe auch nach dem 01.01.2019 vorzunehmen sind, ist bereits ein Revisionsverfahren unter dem Az.: B 1 KR 10/22 R anhängig, wobei mit einer Entscheidung vermutlich in den kommenden 12 bis 18 Monaten zu rechnen ist.

Fazit

Für Behandlungsfälle vor dem 01.01.2019 ist ungeachtet entgegenstehender Vorgaben der FPV eine FZF aus Gründen des wirtschaftlichen Alternativverhaltens vorzunehmen, wenn

  1. eine Frist von zehn Tagen zwischen der Entscheidung zur Entlassung aus dem ersten Aufenthalt und der Fortsetzung der Behandlung nicht überschritten und
  2. die Weiterbehandlung aus medizinischen Gründen auch tatsächlich innerhalb dieser Frist erfolgen kann.

Ausschlaggebend dafür ist der Wissens- und Kenntnisstand des behandelnden Arztes im Zeitpunkt der Entscheidung zur Entlassung.

Demnach ist keine FZF vorzunehmen, wenn:

  • der bezeichnete Zeitraum überschritten wird und diese Verzögerung nicht durch Organisation oder Kapazitätsgründe des KH bedingt ist,
  • ein neues medizinisches Geschehen hinzutritt, welche zum Zeitpunkt der Entlassung noch nicht absehbar ist und
  • für Behandlungsfälle nach dem 01.01.2019 nach § 8 Abs. 5 S. 3 KHEntgG.

 

Rechtsanwalt André Bohmeier

Fachanwalt für Medizinrecht

Partner PPP Rechtsanwälte

Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum

Ungelsheimer Weg 8, 40472 Düsseldorf

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